Endloser Gefühlssturm – die Borderline-Persönlichkeitsstörung

 

So manches Mal werden wir von unseren Emotionen einfach überwältigt. Wenn diese aber dauerhaft außer Kontrolle geraten, könnte eine ernsthafte und gefährliche Erkrankung dahinterstecken.

Wir lachen und weinen, fühlen uns manchmal fröhlich gestimmt, manchmal niedergeschlagen. Nicht immer zeigen wir unseren Mitmenschen, wie es uns geht, verstecken unsere Emotionen, die je nach Tagesverfassung und Ereignis variieren. Doch was passiert, wenn solche Gefühle unkontrollierbar werden? „Ich fühle alle Gefühle viel stärker als andere und meine Emotionen können von einem auf den anderen Moment umschlagen“1, wie die heute 35-jährige Alex erzählt. Sie leidet an der sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörung, kurz BPS.

Heimtückische Sensibilität

Und die Beschreibung von Alex ist das Hauptmerkmal dieser psychischen Erkrankung, wie der deutsche Psychiater Martin Bohus erklärt: „Ganz häufig sind dies ausgesprochen hypersensible Menschen, deren emotionales System in allen Bereichen deutlich intensiver arbeitet. Die Gefühle werden leicht ausgelöst, sind extrem stark und halten lange an“2. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei dieser Erkrankung die Kommunikation bestimmter Hirnareale (hier vor allem jene im Frontallappen), welche für die Emotionen und die Impulssteuerung verantwortlich sind, gestört bzw. abgeschwächt sind.3 Von der BPS betroffen sind etwa 1 bis 2 % der Bevölkerung jährlich; sie tritt in den meisten Fällen zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr auf.4 Und obwohl eine genaue Ursache der Erkrankung bis heute nicht eindeutig ausgemacht werden kann, steigt offenbar das Risiko, an BPS zu erkranken, vor allem dann, wenn traumatische Kindheits- oder Jugenderlebnisse gegeben sind, beispielsweise körperlicher oder seelischer Missbrauch, oder eine genetische Veranlagung besteht.5

Gefährliche symptomatische Vielfalt

Neben extremen Stimmungsschwankungen sowie anhaltenden, heftigen und kaum kontrollierbaren Gefühlen deuten außerdem noch Symptome wie starke Selbstzweifel, Dissoziation, ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken sowie das Gefühl der inneren Leere auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hin.6 Vor allem „ist die Art und Weise, wie Betroffene sich selbst und andere betrachten, sehr instabil“7, erklärt Moritz de Greck, Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. Deswegen gestalten sich Partnerschaften oder familiäre bzw. freundschaftliche Beziehungen, bei denen eine Person an der BPS leidet, häufig sehr schwierig, da einerseits eine große Angst vor Nähe besteht, andererseits aber auch Angst vor Verlust und Einsamkeit. Dies mündet schließlich in extremen Versuchen der Anklammerung und gleichzeitig auch Zurückweisung. Und auch der berufliche Alltag sowie das Verfolgen von Zielen können aufgrund der Stimmungsschwankungen und weiteren BPS-Symptome nur mühsam gemeistert werden.8

Das gefährlichste Kennzeichnen der Erkrankung sind Selbstverletzungen bis hin zu Suizid, dessen Versuch etwa von jeder*jedem 10. Betroffenen unternommen wird.9 Alex weiß, warum viele dies als einzigen Ausweg sehen: „Es fühlt sich an, als hätte man super viele starke Emotionen, die einen zerreißen. In diesen Moment will man nicht mehr und macht alles, damit die innere Anspannung weggeht“10, wie Alex aus eigener Erfahrung spricht. „Man kann sich die Wirkung der Selbstverletzung wie ein Ventil vorstellen: In einem tobt ein gewaltiger Sturm an Emotionen. […] Dadurch, dass sich diese Emotionen vermischen, fühlen Betroffene irgendwann nur noch eine starke […] Zerrissenheit. Sie möchten irgendetwas machen, damit dieser schreckliche Zustand aufhört“11, wie sie erklärt.

Häufig bleibt es nicht nur bei der BPS

Was außerdem hinzukommt: Betroffene haben neben der Erkrankung ein erhöhtes Risiko, andere psychische Krankheiten zu entwickeln, beispielsweise weitere Formen der Persönlichkeitsstörung12, Depressionen, Ängste und Panik13 sowie posttraumatische Belastungsstörungen14 oder Abhängigkeitserkrankungen,15 aber eben auch Essstörungen, wie Alex aus Erfahrung weiß: „Ich suchte verzweifelt einen Weg mit ihnen [Anm.: Emotionen] umzugehen und fand durch Zufall raus, dass ich meine Emotionen kontrollieren kann, indem ich wenig esse. Ich wurde so dünn, dass ich auf der Straße angeschaut und von meinen Lehrern angesprochen wurde“16. Aus diesen Gründen – den gefährlichen Symptomen und dem erhöhten Risiko der Entwicklung von weiteren psychischen Erkrankungen – ist eine Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung unbedingt erforderlich.

Die schwierige Aufgabe der Diagnosestellung

Im Allgemeinen ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung jedoch schwer zu diagnostizieren, weil Betroffene häufig aufgrund von anderen, scheinbar vordergründigen Erkrankungen in Behandlung sind, so auch Alex, die sich ursprünglich aufgrund von Ängsten und Panik in Therapie begab – erfolglos: „Ich war kurz davor, mein Vertrauen in Therapien zu verlieren, als ich im Alter von 28 Jahren und nach neun Jahren erfolgloser Therapie die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bekam“17. Durch die Diagnose hätte sie endlich einen Anhaltspunkt gehabt, „von dem aus ich mich besser verstehen konnte“18, wie sie schildert.

Im Generellen wird eine Testung vorgenommen, um die Erkrankung zu diagnostizieren. Deutet die dabei erreichte Punktezahl auf die BPS hin, wird im nächsten Schritt ein*e Psychotherapeut*in für ein Gespräch herangezogen.19 Liegt sodann explizit das Ergebnis vor, dass die Erkrankung besteht, wird eine Psychotherapie aufgrund der lebensgefährlichen Symptome dringend empfohlen.

Psychotherapie als einziger Weg zur Bekämpfung der Krankheit

Vor allem zwei therapeutische Verfahren haben sich dabei als äußerst erfolgreich in der Behandlung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung herausgestellt, nämlich zum einen die sogenannte dialektisch behaviorale Therapie und zum anderen die Schematherapie. Beide Methoden zielen darauf ab, die Krankheit als solche zu akzeptieren und Techniken zu erlernen, mit den überbordenden Gefühlen anders umzugehen und dabei vor allem selbstverletzendes Verhalten zu vermeiden. Medikamente spielen in der Behandlung der BPS eine untergeordnete Rolle und werden nur zur Symptomlinderung, beispielsweise um emotionale Schwankungen zu reduzieren, eingesetzt; sie ersetzen eine Therapie jedoch nicht.20

Außerdem als wirksam erwiesen haben sich Achtsamkeitsübungen, die dabei unterstützen, sich von den Emotionen zu distanzieren und gleichzeitig deren wertungsfreie Wahrnehmung und Beschreibung zu erlernen,21 sowie die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, um sich mit anderen Betroffenen über Erfahrungen und über den Umgang mit der Krankheit auszutauschen.22

Zwar gestaltet sich die Therapie häufig als ein mehrjähriger Prozess,23 aber Bohus macht Mut: „Etwa 40 Prozent der Betroffenen werden wieder ganz gesund, weitere 40 Prozent können mit etwas Hilfe ein erfülltes Leben führen“24, womit die Borderline-Persönlichkeitsstörung als schwerwiegende, aber gut behandelbare Krankheit eingestuft wird. Und auch Alex hat mithilfe der Therapie einen angemessenen Umgang mit der Krankheit erlernt, benennt mittlerweile auch die positiven Aspekte der BPS: „Heute weiß ich, dass meine Erkrankung auch gute Seiten hat: Ich empfinde nicht nur negative Emotionen stärker, sondern erlebe auch Freude, Lebenslust und Begeisterungsfähigkeit noch ähnlich stark wie Kinder es tun“25, denn sie habe gelernt, „dass ich mehr bin als meine Gedanken und Gefühle, dass ich sie kommen und gehen lassen kann, ohne mich mit ihnen zu identifizieren“26. Und die wichtigste Erkenntnis ihrerseits: „Heute weiß ich: Ich bin nicht schlecht oder falsch, nur anders“27.

 


1 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“. In: jetzt.de. Veröffentlicht am 23.11.2021.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

2 Le Ker, Heike: „Gefühlsleben wie ein wilder Araberhengst“. In: spiegel.de. Veröffentlicht am 04.11.2017.
URL: https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/borderline-gefuehlsleben-wie-ein-wilder-araberhengst-a-1173464.html [Stand: 04.10.2023].

3 Vgl. Oberberg Kliniken: „Ich hasse dich – bitte geh‘ nicht weg!“. In: oberbergkliniken.de.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/borderline [Stand: 04.10.2023].

4 Vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung: Was bedeutet das? In: aok.de. Veröffentlicht am 23.09.2022.
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/was-ist-borderline-symptome-und-behandlung/ [Stand: 04.10.2023] und
vgl. Fleischer, Marie-Thérèse: Borderline-Störung. In: meinmed.at. Aktualisiert am 28.05.2020.
URL: https://www.meinmed.at/krankheit/borderline/1934#symptome-einer-borderline-storung-44327 [Stand: 04.10.2023].

5 Vgl. Oberberg Kliniken: „Ich hasse dich – bitte geh‘ nicht weg!“.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/borderline [Stand: 04.10.2023].

6 Vgl. Oberberg Kliniken: „Ich hasse dich – bitte geh‘ nicht weg!“.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/borderline [Stand: 04.10.2023].

7 AOK Gesundheitsmagazin: Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung: Was bedeutet das?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/was-ist-borderline-symptome-und-behandlung/ [Stand: 04.10.2023].

8 Vgl. Oberberg Kliniken: „Ich hasse dich – bitte geh‘ nicht weg!“.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/borderline [Stand: 04.10.2023] und
vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung: Was bedeutet das?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/was-ist-borderline-symptome-und-behandlung/ [Stand: 04.10.2023].

9 Vgl. Fleischer, Marie-Thérèse: Borderline-Störung.
URL: https://www.meinmed.at/krankheit/borderline/1934#symptome-einer-borderline-storung-44327 [Stand: 04.10.2023].

10 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

11 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

12 Lesen Sie mehr über das Krankheitsbild der Persönlichkeitsstörung in unserem Blogbeitrag Eine Störung mit vielen Gesichtern »» vom 19.01.2022.

13 Nähere Informationen zu Angststörungen finden Sie in unserem Artikel Allumfassende Angst als psychisches Störungsbild »» vom 23.03.2022.

14 Wodurch sich dieses Krankheitsbild kennzeichnet, lesen Sie in unserem Blogbeitrag Vom Trauma zur psychischen Erkrankung – die posttraumatische
Belastungsstörung
»»
vom 13.07.2022.

15 Vgl. Oberberg Kliniken: „Ich hasse dich – bitte geh‘ nicht weg!“.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/borderline [Stand: 04.10.2023].

16 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

17 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

18 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

19 Vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung: Was bedeutet das?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/was-ist-borderline-symptome-und-behandlung/ [Stand: 04.10.2023].

20 Vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung: Was bedeutet das?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/was-ist-borderline-symptome-und-behandlung/ [Stand: 04.10.2023].

21 Vgl. Ö1: Achtsamkeit. In: oe1.orf.at. Veröffentlicht am 08.04.2017.
URL: https://oe1.orf.at/artikel/212514/Achtsamkeit [Stand: 04.10.2023].

22 Vgl. Schwenkenbecher, Jan: Borderline. In: focus-arztsuche.de. Aktualisiert am 31.08.2023.
URL: https://focus-arztsuche.de/magazin/krankheiten/psychische-erkrankungen/borderline-stoerung-alles-ueber-symptome-und-therapie [Stand: 04.10.2023].

23 Vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung: Was bedeutet das?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/was-ist-borderline-symptome-und-behandlung/ [Stand: 04.10.2023].

24 Le Ker, Heike: „Ich bin ein Mensch, auch mit Narben“. In: spiegel.de. Veröffentlicht am 04.11.2017.
URL: https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/borderline-portrait-ich-bin-ein-mensch-auch-mit-narben-a-1150132.html [Stand: 04.10.2023].

25 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

26 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

27 Winterfeld, Hanna: „Die Gefühle waren so unerträglich stark“.
URL: https://www.jetzt.de/talking-minds/talking-minds-betroffene-mit-borderline-erzaehlt [Stand: 04.10.2023].

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Veröffentlicht am: 25.10.2023