Von Magersucht bis Binge Eating – Die komplexen Gesichter von Essstörungen

 

Für körperliche und seelische Gesundheit ist unter anderem eine bewusste und ausgewogene Ernährung unabdingbar. Wenn der Alltag jedoch ausschließlich von Gedanken an ‚Essen‘ bestimmt wird, dann sollte dies als Warnsignal erfasst werden.

Akribisches Kalorienzählen, Heißhungerattacken, exzessive Sporteinheiten zur Gewichtsreduktion – im Grunde sind solche Verhaltensmuster nicht sogleich besorgniserregend, denn viele weisen diese früher oder später das ein oder andere Mal in verschiedenen Ausprägungen auf. Man kämpft mit dem Gewicht und betreibt Sport oder achtet auf die Zufuhr von bestimmten Nahrungsmitteln bzw. vermeidet zu fett- oder kohlenhydratreiche Kost. Und stressige Tage führen hin und wieder dazu, dass zu viel von ungesunden Lebensmitteln zu sich genommen wird.

Was vielen bekannt vorkommt – weil eben manchmal zutreffend – bestimmt jedoch über einen langen Zeitraum den Alltag von Menschen mit Essstörungen. Die eben erwähnten Merkmale sind dabei krankhaft ausgeprägt und können im schlimmsten Fall lebensbedrohlich sein.

Essstörungen sind allgegenwärtig.

Den verschiedensten Formen von Essstörungen ist ein Aspekt gemein: Sie treten nicht von heute auf morgen auf, sondern entwickeln sich schleichend über längere Zeit, wobei der Übergang von einem ab und an ungesunden Ernährungsverhalten hin zur tatsächlichen Krankheit fließend verläuft.1

Im Generellen werden Essstörungen in 4 unterschiedliche Gruppen eingeteilt, nämlich in die Magersucht (Anorexie), die Ess-Brech-Sucht (Bulimie), die Esssucht (Binge-Eating-Störung) und in die sogenannten nicht näher bezeichneten Essstörungen (wie die Orthorexie2 oder die Ruminations-Regurgitations-Störung3).4 In den meisten Fällen treten sie im Jugendalter auf, aber auch im jungen Erwachsenenalter sind Essstörungen keine Seltenheit, wie eine Statistik5 zeigt: Gemäß einer Untersuchung leiden in Österreich etwa 200.000 Menschen im Laufe ihres Lebens an einer Essstörung, Frauen dabei 6 Mal häufiger als Männer. Ausgegangen wird davon, dass aktuell etwa 5.500 Frauen im Alter zwischen 15 und 25 an Magersucht leiden und sich diese Zahl jährlich um ca. 600 erhöht. Stärker verbreitet ist gemäß dieser Untersuchung das Krankheitsbild Bulimie, denn etwa 24.000 Frauen im Alter zwischen 18 und 35 sind davon betroffen, wobei jährlich geschätzt 900 neu erkranken.

Doch wie genau kommt es überhaupt zu einer Essstörung und wie macht sie sich bemerkbar?

Angenommen wird, dass eine Essstörung durch verschiedenste Faktoren, die ineinandergreifen, ausgelöst wird. Dabei spielen vielfältige Bereiche eine gewichtige Rolle, unter anderem das familiäre Umfeld, soziokulturelle Einflüsse sowie biologische und auch individuelle Aspekte.6 Vor allem die folgenden Punkte begünstigen die Ausbildung eines krankhaften Essverhaltens:7

  • Gesellschaftsbedingte Einflüsse und Schönheitsideale
    Wie bereits im Blogbeitrag Dysmorphophobie – Die eingebildete Hässlichkeit als Krankheitsbild »» vergangene Woche erläutert haben die vorherrschenden gesellschaftlichen Ideale einen gewichtigen Anteil an der Entwicklung einer Essstörung, vor allem bei Jugendlichen. Auch die bildbasierten Social-Media-Kanäle sind hier als Risikofaktoren zu bewerten. Nicht zu unterschätzen ist auch die Meinung des sozialen Umfeldes.
  • Diäten und gehemmtes Essverhalten
    Sehr strenge Diäten bis hin zu längeren Hungerphasen können Essstörungen begünstigen, sowohl einen starken Gewichtsverlust als auch unkontrollierte Heißhungerattacken.
  • Familiäre Situation
    Essstörungen können auch auf eine schlechte Kommunikation innerhalb des Familienkreises zurückgeführt werden. Ein strenger Erziehungsstil, Leistungsdruck und -orientierung, mangelnde elterliche Zuwendung oder zu hohe Erwartungen an die/den Jugendliche*n könnten Essstörungen begünstigen.
  • Persönlichkeit
    Ein zu geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus oder hoher Leistungsdruck stehen mit der Ausbildung von Essstörungen im Zusammenhang.
  • Psychische Belastungen bzw. Erkrankungen
    Häufig treten gemeinsam mit psychischen Erkrankungen wie Angst- oder Zwangsstörungen, Depression oder einer allgemeinen negativen Grundeinstellung Essstörungen auf.
  • Bestimmte Ereignisse oder Lebensphasen
    Der allgemeine Entwicklungsprozess mit erlebtem Kontrollverlust über den Körper, aber auch Überforderung, traumatische Ereignisse wie auch sexueller Missbrauch oder Trennungserfahrungen können Essstörungen auslösen.

Wenn die eben erwähnten Risikofaktoren gegeben sind und zudem ein verändertes Essverhalten an sich selbst oder von Angehörigen beobachtet wird, so sollte darauf eingegangen und eine mögliche Problematik erörtert werden. Schon kleinste Anzeichen, die über einen längeren Zeitraum auftreten, so etwa ein verstärkter Konsum von Diätprodukten, extrem langsames Essen oder bedächtiges Kauen sowie das Zerteilen von Nahrung könnten bereits Anhaltspunkte sein, die auf eine Essstörung hindeuten. Außerdem sollte eine Essstörung in Betracht gezogen werden, wenn

  • bestimmte Nahrungsmittel zur Gänze gemieden werden,
  • die Nahrungsmittelauswahl im Generellen immer kleiner wird,
  • Mahlzeiten ausgelassen werden oder ein unregelmäßiges Essverhalten gegeben ist,
  • kontrolliert Nahrung aufgenommen wird oder
  • wenn extrem viel oder sehr wenig gegessen wird.8

Menschen, die an einer Essstörung leiden, kaufen außerdem vermehrt Abführmittel oder Produkte zur Gewichtsreduktion, horten Lebensmittel, geben mehr Geld für Süßigkeiten aus oder essen heimlich, was beispielsweise erkennbar wird, wenn Lebensmittel im Kühlschrank oder in der Vorratskammer fehlen. Offensichtlichere Hinweise sind auch der häufige Gang auf die Toilette nach dem Verzehr von Nahrung sowie wahrnehmbare Gerüche nach Erbrochenem.9

Wenn der Verdacht besteht, dann muss dringend gehandelt werden.

Denn ohne die entsprechende Behandlung einer Essstörung kann diese im schlimmsten Fall lebensbedrohlich sein. Die Krankheit belastet den Organismus enorm und Komplikationen beispielsweise das Herz oder das neurologische System betreffend können dabei vermehrt auftreten.10

Angehörige von Menschen mit möglicher Essstörung sollten diese Anzeichen demnach unbedingt ernst nehmen und das veränderte Verhalten auch ansprechen. Wichtig ist es aber, dass nicht versucht wird, Kontrolle über die betroffene Person auszuüben. Im Vordergrund steht, dass Hilfe angeboten und ein*e Allgemeinmediziner*in aufgesucht wird, um weiterführende Behandlungsmöglichkeiten zu besprechen.11 Eine Essstörung bedarf nämlich einer intensiven fachärztlichen Kontrolle sowie Psychotherapie. Nicht selten beträgt die Dauer einer Behandlung dabei mehrere Jahre und kann im Zuge dessen verschiedenste Settings durchlaufen (ambulant, tagesklinisch und stationär), bis eine vollständige Heilung möglich sein kann.12

Auch spezielle Beratungsstellen helfen Betroffenen oder Angehörigen mit Informationsmaterial und Gesprächen über die Essstörung weiter. Speziell in der Steiermark gibt es hierfür folgende Einrichtungen, die bei Verdacht oder diagnostizierter Essstörung helfen können:

BAS – Suchtberatungsstelle Graz
Beratung und Therapie für Menschen mit Essstörungen
T: +43 316 82 11 99
E: office@bas.at

Frauengesundheitszentrum Graz
T: +43 316 83 79 98
E: frauen.gesundheit@fgz.co.at

Drogenberatung des Landes Steiermark
T: +43 32 60 44
E: drogenberatung@stmk.gv.at

Selbsthilfegruppe für Angehörige essgestörter Kinder/Jugendlicher
T: +43 699 1600 5050
E: selbsthilfe@sbz.at

SMZ – Sozialmedizinisches Zentrum Liebenau
Telefon: +43 316 46 23 40
Telefonische Terminvereinbarung
Journaldienst immer donnerstags von 17:00 bis 19:00 Uhr

 


1 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Was ist das? Zuletzt aktualisiert am 19.12.2017.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/was-ist-das [Stand: 01.06.2021].

2 Orthorexie beschreibt eine Form der Essstörung, welche sich durch eine zwanghafte Fixierung auf gesunde Lebensmittel auszeichnet. Krankhaft wird ein solches Verhalten, wenn die Lebensqualität dadurch eingeschränkt wird, indem beispielsweise starke Schuldgefühle nach der Zufuhr von ‚ungesunden‘ Lebensmitteln auftreten oder auch soziale Kontakte infolge der Erkrankung eingeschränkt werden.
Vgl. dazu: TCE: Therapie-Centrum für Essstörungen: Nicht näher bezeichnete Essstörungen und Orthorexie. URL: https://www.tce-essstoerungen.de/info-hilfe/Andere_spezifische_Essstoerungen.php. [Stand: 01.06.2021].

3 Bei dieser Form der Essstörung würgen Betroffene die aufgenommene Nahrung wiederholt hoch, welche sodann wieder gekaut und erneut geschluckt oder ausgespuckt wird. Im Gegensatz zur Bulimie wird das zuvor Gegessene nicht erbrochen.
Vgl. dazu: TCE: Therapie-Centrum für Essstörungen: Nicht näher bezeichnete Essstörungen und Orthorexie. URL: https://www.tce-essstoerungen.de/info-hilfe/Andere_spezifische_Essstoerungen.php. [Stand: 01.06.2021].

4 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Was ist das?
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/was-ist-das [Stand: 01.06.2021].

5 Vgl. Gschwandtner, Franz / Lehner, Roland / Paulik, Richard / Syer, Seifried: Factsteet Sucht. Abhängigkeit und Substanzkonsum. Version 2.7. Veröffentlicht am 26.07.2017.
URL: https://www.praevention.at/fileadmin/user_upload/08_Sucht/Factsheet_Sucht_V27.pdf [Stand: 01.06.2021].

6 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Was ist das?
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/was-ist-das [Stand: 01.06.2021].

7 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Was ist das?
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/was-ist-das [Stand: 01.06.2021].

8 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Anzeichen erkennen. Zuletzt aktualisiert am 19.12.2017.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/anzeichen-erkennen [Stand: 01.06.2021].

9 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Anzeichen erkennen.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/anzeichen-erkennen [Stand: 01.06.2021].

10 Vgl. Karwautz, Andreas: Essstörungen. In: Österreichische Ärztezeitung 13/14, 07/2020, S. 31.
URL: https://www.aerztezeitung.at/fileadmin/PDF/2020_Verlinkungen/Essstoerungen.pdf [Stand: 01.06.2021].

11 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Essstörungen: Was Angehörige tun können. Zuletzt aktualisiert am 19.12.2017.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/anzeichen-erkennen [Stand: 01.06.2021].

12 Vgl. Karwautz, Andreas: Essstörungen. In: Österreichische Ärztezeitung 13/14, 07/2020, S. 33.
URL: https://www.aerztezeitung.at/fileadmin/PDF/2020_Verlinkungen/Essstoerungen.pdf [Stand: 01.06.2021].

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Veröffentlicht am: 07.07.2021