Dysmorphophobie – Die eingebildete Hässlichkeit als Krankheitsbild

 

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ – Das vielzitierte Sprichwort bekommt für Menschen, die unter einer körperdysmorphen Störung leiden, eine völlig neue Bedeutung, denn sie eifern einem imaginären und nicht erreichbaren Schönheitsideal nach.

Schönheitsideale sind einem ständigen kulturellen Wandel unterworfen, angepasst an die jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen. Das allgemeine männliche Schönheitsideal unterliegt dabei keiner zu großen Neuerung: Breite Schultern sowie eine entsprechende Körpergröße gelten seit jeher als erstrebenswert. Bei den Frauen ist jedoch eine deutliche Veränderung erkennbar: Lange wurden üppige Proportionen als schön wahrgenommen, denn diese signalisierten Fruchtbarkeit und Wohlstand.1 Aber wie sieht es in der heutigen Zeit aus?

Von mollig zu mager – das Schönheitsideal des 21. Jahrhunderts

Mittlerweile präsentiert sich das gängige weibliche Schönheitsideal als ein ganz anderes im Vergleich zu früheren Epochen. Frauen sind schlank, sogar teilweise knochig und weisen eher androgyne Züge auf.2 Auch dieses Bild ist von soziokultureller Prägung, denn es steht für eine disziplinierte Bestreitung des Alltages. Abweichungen dieses Ideals werden ebenso mit Assoziationen versehen: Menschen mit Rundungen und ausgeprägteren Zügen werden nämlich mit Schlagworten wie Faulheit, Kontrollverlust und sogar mit Krankheiten in Verbindung gebracht und damit der heutigen Leistungsgesellschaft nicht gerecht.3 Kurz gesagt: „Mit dem Aussehen konnte und kann man kenntlich machen, zu welcher Gruppe oder Gesellschaft man gehört“4, wie es Hinrich Bents, Leiter des Zentrums für Psychologische Psychotherapie an der Universität Heidelberg, auf den Punkt bringt.

Außerdem hat sich das eben beschriebene Körperbild durch die sozialen Medien etabliert: Vor allem auf Plattformen, welche auf Fotos bzw. Videos basieren, finden sich hauptsächlich Bilder von vermeintlich perfekten Gesichtern und trainierten Körpern.5 Und obwohl bekannt ist, dass ein Großteil dieser Aufnahmen mittels Filter bearbeitet worden sind, wird den gefälschten Darstellungen nachgeeifert, denn gemäß Studien werden „bearbeitete Bilder als schöner und sogar ‚natürlicher‘ wahrgenommen“6, wie Eva Wunderer, Psychologin und Professorin für Psychologische Aspekte Sozialer Arbeit an der Hochschule Landshut, erklärt.

Trotz des Bewusstseins, gefälschte Bilder zu betrachten, haben sie dennoch einen großen Einfluss auf die Psyche. Sie wirken sich auf das Selbstbild genauso wie das Selbstwertgefühl und das individuelle Verhalten aus – und zwar auch negativ.7 Die übermäßige Fokussierung auf vermeintlich makellose Schönheit bringt die Gefahr mit sich, eine falsche Wahrnehmung von sich selbst und vom eigenen Körper auszubilden. Schwerwiegende Krankheiten wie Depressionen oder Essstörungen können im Extremfall Folgen einer solchen Verschiebung des Blickwinkels sein, so auch die Dysmorphophobie.

Die Angst vor der Hässlichkeit

Obwohl die Mehrheit aller Menschen sich selbst kritisch betrachtet und angibt, über zumindest einen körperlichen Makel zu verfügen, so kann dieses Verhalten auch zu einer folgenreichen Krankheit, einer Dysmorphophobie, führen. Betroffene finden sich nicht nur unattraktiv, sondern empfinden sich selbst auch als ‚entstellt‘. Es handelt sich bei dieser Krankheit also um eine Wahrnehmungsstörung des eigenen Aussehens.8

Während die einen dabei das Aussehen ständig und fast schon zwanghaft überprüfen, vermeiden andere wiederum den Blick in den Spiegel und fühlen sich aufgrund vermeintlicher Makel von Fremden beobachtet und auf die scheinbaren Schönheitsfehler reduziert.9 Neben dem Kontroll- bzw. Vermeidungsverhalten ziehen sich Betroffene in weiterer Folge auch sozial zurück, empfinden Hoffnungslosigkeit und entwickeln eine depressive Symptomatik, die im schlimmsten Fall Suizidgedanken auslösen beziehungsweise zum tatsächlichen Suizidversuch führen kann.10

Ursachenforschung und Behandlungsmöglichkeiten

Wie Dysmorphophobie überhaupt entsteht, ist bis heute noch nicht zur Gänze geklärt. Expert*innen gehen jedoch davon aus, dass die soziale Umwelt eine entscheidende Rolle hierfür spielt und damit auch Social-Media-Kanäle einen Risikofaktor für die Entwicklung der Krankheit darstellen. Auch eine überbehütete Kindheit oder eine gegenteilige autoritäre Erziehung sowie körperlicher oder seelischer Missbrauch können dazu führen, eine gestörte Körperwahrnehmung auszubilden.11

Aktuell gibt es noch keine definitive Empfehlung, welche Therapie am erfolgversprechendsten erscheint, jedoch konnte die Wirksamkeit einer kognitiv-behavioralen Psychotherapie noch am ehesten nachgewiesen werden. Zwanghafte Verhaltensmuster sollen dabei vermindert werden, ein entsprechendes Problemverständnis wird erarbeitet und der ganzheitliche Fokus auf Körperlichkeit soll im Zuge der Behandlung verringert bzw. umstrukturiert werden. Beispielsweise steht dabei die Verminderung einer übermäßigen Beachtung der betroffenen Körperregion(en) wie auch des Verdeckens dieser im Vordergrund.12 Auch eine medikamentöse Therapie mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern – kurz SSRI – kommt des Öfteren zur Anwendung, da Expert*innen des Weiteren eine mögliche Dysbalance im Serotoninhaushalt als Ursache für die Krankheit diskutieren.13

Bevor es jedoch zu einer notwendigen therapeutischen Behandlung kommen kann, müssen Betroffene Einsicht dahin gehend haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden. In vielen Fällen nehmen sie sich selbst aber nicht als krank wahr, sondern sind vom scheinbaren Schönheitsmakel überzeugt. Deswegen entscheiden sie sich nicht selten für kosmetische und/oder operative Eingriffe. Häufig stimmt die surreale Wunschvorstellung mit dem tatsächlichen Ergebnis einer solchen Behandlung jedoch nicht überein, weshalb oft weitere Eingriffe vorgenommen werden, die Symptomatik sich dabei aber nicht verbessert oder sogar verschlechtert.14

Unabdingbar ist es also, bei einer übermäßigen Fokussierung auf den eigenen Körper und vor allem bei einer verzerrten Wahrnehmung dessen sich auch des Problems bewusst zu werden. Erst dann können entsprechende Handlungen wie therapeutische Maßnahmen gesetzt werden, die auf eine Linderung der Symptomatik abzielen. Denn im Vordergrund steht, sich im eigenen Körper wohlzufühlen und sich selbst annehmen zu können, unabhängig davon, welche gesellschaftlichen Schönheitsideale vorherrschend sind.

 


1 Vgl. Die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik e. V.: Schönheitsideal im Wandel der Zeit. In: gesundheit.de. Veröffentlicht am 29.08.2016.
URL: https://www.gesundheit.de/medizin/psychologie/psychologische-fragen/schoenheitsideal-im-wandel-der-zeit [Stand: 27.05.2021].

2 Vgl. Die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik e. V.: Schönheitsideal im Wandel der Zeit.
URL: https://www.gesundheit.de/medizin/psychologie/psychologische-fragen/schoenheitsideal-im-wandel-der-zeit [Stand: 27.05.2021].

3 Vgl. Hausbichler, Beate: Kulturwissenschafterin Lechner: „Schönheit ist ein kapitalistisches Konstrukt“. In: derStandard.at. Veröffentlicht am 24.12.2019.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000111880732/kulturwissenschafterin-lechner-schoenheit-ist-ein-kapitalistisches-konstrukt [Stand: 27.05.2021].

4 Spanhel, Hanna: Warum wir andere nach ihrem Aussehen beurteilen. In: stuttgarterzeitung.de. Veröffentlicht am 29.01.2020.
URL: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.psychologe-ueber-das-aussehen-warum-wir-andere-abwerten-und-uns-selbst.e7dcc329-4d64-4ea8-9bff-0f2c5809bc9c.html [Stand: 27.05.2021].

5 Vgl. o.A.: Was die Schönheitsideale der sozialen Medien mit unserer Psyche machen. In: wissen.de. Veröffentlicht am 11.05.2021.
URL: https://www.wissen.de/was-die-schoenheitsideale-der-sozialen-medien-mit-unserer-psyche-machen [Stand: 27.05.2021].

6 o.A.: Was die Schönheitsideale der sozialen Medien mit unserer Psyche machen.
URL: https://www.wissen.de/was-die-schoenheitsideale-der-sozialen-medien-mit-unserer-psyche-machen [Stand: 27.05.2021].

7 Vgl. o.A.: Was die Schönheitsideale der sozialen Medien mit unserer Psyche machen.
URL: https://www.wissen.de/was-die-schoenheitsideale-der-sozialen-medien-mit-unserer-psyche-machen [Stand: 27.05.2021].

8 Vgl. pap/pxt: Wenn der Spiegel zum Feind wird: Die Angst vor der eigenen Hässlichkeit. In: focusonline.de. Veröffentlicht am 10.09.2017.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/praxistipps/dysmorphophobie-die-angst-vor-der-eigenen-haesslichkeit_id_7462473.html [Stand: 27.05.2021].

9 Niedenzu, Sophie: Dysmorphophobie: Zu hässlich für diese Welt. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 21.09.2012.
URL: https://www.derstandard.at/story/1341526894563/dysmorphophobie-zu-haesslich-fuer-diese-welt [Stand: 27.05.2021].

10 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Körperdysmorphe Störung: Der eingebildete Mangel. In: Deutsches Ärtzeblatt PP. 01/2007, S. 29.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/54110/Koerperdysmorphe-Stoerungen-Der-eingebildete-Mangel {Stand: 27.05.2021].

11 Vgl. lea: Dysmorphophobie: Wenn Sie davon betroffen sind, sehen Sie in Wahrheit ganz anders aus, als sie denken. In: focusonline.de. Veröffentlicht am 19.10.2018.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/falsche-wahrnehmung-dysmorphophobie-wenn-sie-davon-betroffen-sind-sehen-sie-ihren-koerper-ganz-anders-als-er-wirklich-ist_id_9784611.html [Stand: 27.05.2021].

12 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Körperdysmorphe Störung: Der eingebildete Mangel.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/54110/Koerperdysmorphe-Stoerungen-Der-eingebildete-Mangel {Stand: 27.05.2021].

13 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Körperdysmorphe Störung: Der eingebildete Mangel.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/54110/Koerperdysmorphe-Stoerungen-Der-eingebildete-Mangel {Stand: 27.05.2021].

14 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Körperdysmorphe Störung: Der eingebildete Mangel.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/54110/Koerperdysmorphe-Stoerungen-Der-eingebildete-Mangel {Stand: 27.05.2021].

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Veröffentlicht am: 30.06.2021