Neben sich stehen – die Metapher als Krankheitsbild

 

Wenn wir in Gedanken vertieft sind oder einer intensiven Tätigkeit nachgehen, sind uns nicht immer die unmittelbaren Vorgänge rund um uns herum bewusst. Wenn nun aber diese Wahrnehmungsverschiebung krankhaft wird, besteht dringender Handlungsbedarf.

Wir alle kennen vermutlich das Phänomen, unseren Gedanken nachzuhängen, wenn wir beispielsweise einen Spaziergang machen, und uns im Anschluss darüber wundern, schon am Ziel angekommen zu sein, ohne die Umgebung während der Bewegungseinheit wahrgenommen zu haben. Oder wir verlieren uns in einer Arbeit und sind nach ihrer Fertigstellung darüber erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Bei diesen Beispielen entstehen Lücken in der räumlichen und temporären Wahrnehmung, die nicht weiter besorgniserregend sind. Wenn diese Lücken jedoch unterbewusst eingesetzt werden, um eine Schutzfunktion zu erfüllen, so kann dies auf ein schwerwiegendes psychisches Krankheitsbild hindeuten.

Wenn die Wirklichkeit auseinanderfällt

Bei der sogenannten dissoziativen Störung fallen Teile der Wirklichkeit auseinander, die eigentlich zusammengehören.1 Doch was bedeutet das im Detail und wie muss man sich dieses Krankheitsbild vorstellen? „Ein dissoziativer Zustand zeichnet sich beispielsweise durch Gedächtnisstörungen, ein verändertes Bewusstsein, eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt oder der eigenen Person bzw. des eigenen Körpers aus“2, wie die deutsche Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Petra Ludäscher erklärt. „Betroffene erleben ihre Umwelt beispielsweise als unwirklich, verschwommen […] oder spüren Teile ihres Körpers nicht mehr. Das Ausmaß kann vom „neben sich stehen“ bis beispielsweise dazu führen, dass man nicht mehr weiß, wer oder wo man ist bzw. überhaupt nicht mehr ansprechbar ist“3, so ihre weiterführende Erläuterung. Doch warum bzw. wann geschieht dies überhaupt?

Das Trauma als Ursache

Weil die dissoziative Störung zu den reaktiven stressbezogenen psychischen Erkrankungen zählt,4 steckt hinter der Entwicklung der Krankheit vorwiegend ein traumatisches Erlebnis5 oder eine extreme Belastungssituation.6 Im Grunde ist eine Dissoziation, also ein Auseinanderfallen der Wirklichkeit, unter solchen Umständen nicht immer negativ zu bewerten, denn im Zuge von traumatisierenden Erlebnissen dient sie als Schutzfunktion, um mit dem dadurch entstandenen Schock überhaupt umgehen zu können. Wenn die Dissoziation jedoch übermäßig häufig auftritt und die Lebensqualität beeinflusst, ist sie als krankhafte Störung einzustufen,7 denn „langfristig können die dissoziativen Zustände an sich zum Problem werden, wenn das Gehirn auf ähnliche, nicht bedrohliche Reize genauso regiert“8, so Ludäscher erklärend.

Formenvielfalt

Die Symptome, die auf die Störung hinweisen, sind dabei so vielfältig wie die Erkrankung selbst. Deswegen wird zwischen mehreren Formen der dissoziativen Störung unterschieden:9

  • Bewegungsstörungen
    Ein vollständiger oder teilweiser Verlust der Motorik von einzelnen oder allen Gliedmaßen ist die häufigste Form, welche auf eine dissoziative Störung hinweist. Die darauf basierende Diagnose gestaltet sich jedoch oftmals schwierig, weil die Bewegungsstörungen nur schwer von anderen neurologischen Erkrankungen unterschieden werden können.
  • Krampfanfälle
    Auch bei diesen Symptomen kann nur schwer von anderen Krankheiten differenziert werden, denn Krampfanfälle treten in sehr ähnlicher Form ebenso bei der Epilepsie auf.
  • Amnesie
    Traumatisierte Personen leiden manchmal unter Erinnerungslücken bis hin zum vollständigen Erinnerungsverlust in Bezug auf das entsprechende Erlebnis. Diese ‚Abspaltung‘ der Erinnerung wird damit auch der dissoziativen Störung zugeordnet.
  • Stupor
    Diese Form der dissoziativen Störung zeichnet sich durch eine Verminderung oder ein komplettes Ausfallen von Reizreaktionen sowie von Bewegungsabläufen aus.
  • Fugue bis hin zur dissoziativen Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung)
    Die betroffene Person verliert bei dieser Form entweder Teile ihrer Erinnerung an die eigene Identität bzw. die Vergangenheit oder sie wird komplett abgespaltet. Dies kann so weit führen, dass jemand das gewohnte Umfeld ‚verlässt‘ und eine völlig neue Identität bzw. mehrere davon abwechselnd annimmt. Dabei weiß die betroffene Person selbst nichts von der/den jeweils anderen Identität(en).
  • Derealisation
    Bei dieser Form haben Betroffene das Gefühl, sich von der unmittelbaren Umgebung zu entfernen. Die Umwelt wirkt dabei leer, fremd und unwirklich und wird als unvertraut wahrgenommen.
  • Depersonalisation
    Dabei wird das eigene Ich als fremd wahrgenommen. Ein Gefühl von emotionaler Taubheit tritt auf, sodass Betroffene wie automatisiert wirken. Auch das Wahrnehmungsempfinden (Sinneseindrücke bis hin zum Zeitgefühl) ist gestört.

Psychotherapie als erste Wahl zu Behandlung der Störung

Weil die dissoziative Störung am häufigsten auf Traumata zurückzuführen ist, gestaltet sich die Behandlung in erster Linie psychotherapeutisch. Zum Einsatz kommen dabei vorrangig tiefenpsychologisch orientierte Verfahren oder verhaltenstherapeutische Methoden, um dem Trauma auf den Grund zu gehen. Empfohlen wird eine frühestmögliche Behandlung der Störung, da so zum einen die Chancen auf eine vollständige Heilung steigen und zum anderen sozialen sowie körperlichen Folgen entgegengewirkt wird.10

Zwar werden medikamentöse Therapieformen zur Behandlung der Störung eingesetzt, um die jeweiligen Symptome zu lindern, aber zur Traumabewältigung ist eine Psychotherapie unabdingbar.11 Im Vordergrund steht dabei das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Patient*in und Psychotherapeut*in: „Zentral für die erste Therapiephase ist der Aufbau von Sicherheitserleben“12, wie Monika Vogelsang von der Psychosomatischen Fachklinik Münchwies erklärt. Erst dann kann mit der Aufarbeitung des Traumas begonnen werden. Ein weiterer wichtiger Part der Therapie von dissoziativen Störungen ist ihr frühzeitiges Erkennen und – mittels verhaltenstherapeutischer Maßnahmen – ebenso das Stoppen der Krankheitsmerkmale, womit der automatischen Reaktion des Körpers bzw. der Psyche auf mögliche Auslöser von Störungsmustern entgegengewirkt wird. Ziel der Therapie ist es, mithilfe verschiedenster Richtungen der Psychotherapie das Trauma aufzuarbeiten und abgespaltene Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Identitätserfahrungen wieder zu integrieren.13

Gemäß den Ausführungen ist es also unbedingt erforderlich, die erwähnten Symptome, welche auf eine dissoziative Störung hindeuten können, ärztlich abklären zu lassen. Im Vordergrund steht nämlich die Bewältigung des Traumas, da dieses die Störungsformen hervorgerufen hat. Erst dadurch wird es möglich sein, die Symptome zu reduzieren bzw. die seelischen Folgen des Traumas – in diesem Fall die dissoziativen Störungsformen – auch aufzulösen.

 


1 Vgl. Weiss, Thomas: Dissoziative Störungen. In: weiss.de.
URL: https://www.weiss.de/krankheiten/dissoziative-stoerungen [Stand: 16.06.2023].

2 Mischer, Juliane: „Ich stehe neben mir“ – Über dissoziative Zustände bei Trauma-assoziierten psychischen Störungen. In: hs-fresenius.de. Veröffentlicht am 22.01.2019.
URL: https://www.hs-fresenius.de/blog/psychologie/ich-stehe-neben-mir-ueber-dissoziative-zustaende-bei-trauma-assoziierten-psychischen-stoerungen/ [Stand: 16.06.2023].

3 Mischer, Juliane: „Ich stehe neben mir“ – Über dissoziative Zustände bei Trauma-assoziierten psychischen Störungen.
URL: https://www.hs-fresenius.de/blog/psychologie/ich-stehe-neben-mir-ueber-dissoziative-zustaende-bei-trauma-assoziierten-psychischen-stoerungen/ [Stand: 16.06.2023].

4 Vgl. Maisch, Andreas: Wenn Menschen nicht mehr wollen können. In: welt.de. Veröffentlicht am 09.08.2007.
URL: https://www.welt.de/welt_print/article1092074/Wenn-Menschen-nicht-mehr-wollen-koennen.html [Stand: 16.06.2023].

5 Lesen Sie mehr zum Thema Trauma in unserem Blogbeitrag Psychisch erschüttert – Traumata und ihre Bewältigung »» vom 07.04.2021.

6 Vgl. Hausen, Pauline: Dissoziative Störung: Das sollten Sie darüber wissen. In: praxistipps.focus.de. Veröffentlicht am 17.10.2020.
URL: https://praxistipps.focus.de/dissoziative-stoerung-das-sollten-sie-darueber-wissen_125449 [Stand: 16.06.2023].

7 Vgl. Klinik am Waldschlößchen: Dissoziative Störungen. In: klinik-waldschoesschen.de.
URL: https://www.klinik-waldschloesschen.de/behandlung/stoerungsbilder/dissoziative-stoerungen/ [Stand: 16.06.2023].

8 Mischer, Juliane: „Ich stehe neben mir“ – Über dissoziative Zustände bei Trauma-assoziierten psychischen Störungen.
URL: https://www.hs-fresenius.de/blog/psychologie/ich-stehe-neben-mir-ueber-dissoziative-zustaende-bei-trauma-assoziierten-psychischen-stoerungen/ [Stand: 16.06.2023].

9 Vgl. Hausen, Pauline: Dissoziative Störung: Das sollten Sie darüber wissen.
URL: https://praxistipps.focus.de/dissoziative-stoerung-das-sollten-sie-darueber-wissen_125449 [Stand: 16.06.2023],
vgl. Klinikum Stuttgart: Dissoziative Störungen. In: klinikum-stuttgart.de.
URL: https://www.klinikum-stuttgart.de/kliniken-institute-zentren/klinik-fuer-psychosomatische-medizin-und-psychotherapie/klinische-schwerpunkte/dissoziative-stoerungen [Stand: 16.06.2023] und
vgl. Klinik am Waldschlößchen: Dissoziative Störungen.
URL: https://www.klinik-waldschloesschen.de/behandlung/stoerungsbilder/dissoziative-stoerungen/ [Stand: 16.06.2023].

10 Vgl. Finke, Gisela / Schäffler, Arne: Dissoziative Störung. In: apotheken.de. Aktualisiert am 17.10.2019.
URL: https://www.apotheken.de/krankheiten/4666-dissoziative-stoerung [Stand: 16.06.2023].

11 Vgl. Hausen, Pauline: Dissoziative Störung: Das sollten Sie darüber wissen.
URL: https://praxistipps.focus.de/dissoziative-stoerung-das-sollten-sie-darueber-wissen_125449 [Stand: 16.06.2023].

12 Sonnenmoser, Marion: Dissoziative Störungen: Häufig fehlgedeutet. In: aerzteblatt.de. Veröffentlich im August 2004.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/43054/Dissoziative-Stoerungen-Haeufig-fehlgedeutet [Stand: 16.06.2023].

13 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Dissoziative Störungen: Häufig fehlgedeutet.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/43054/Dissoziative-Stoerungen-Haeufig-fehlgedeutet [Stand: 16.06.2023].

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Veröffentlicht am: 19.07.2023