Krank sein wollen um jeden Preis – die artifizielle Störung

 

Ein glückliches Leben geht mit Gesundheit einher. Wenn aber das Bedürfnis übermächtig wird, krank sein zu wollen, kann eine schwere und äußerst gefährliche Erkrankung dahinterstecken.

Es sind Nachrichten, die schockieren und kaum zu glauben sind: Eine noch junge Frau, die aufgrund einer Krebserkrankung bereits zahlreiche Chemotherapien durchgemacht hatte und über Jahre hinweg ein Hospiz besuchte, gesteht plötzlich, dass sie niemals Krebs hatte.1 Oder eine Mutter verabreicht ihrem Kind über Monate hinweg Spritzen mit verseuchtem Inhalt, woraufhin dieses in Lebensgefahr schwebt.2 Solche Meldungen sorgen für Entsetzen und für Unverständnis, doch für Betroffene stellt dieses Vorgehen – sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen – eine Notwendigkeit dar. Dabei handelt es sich um eine schwere Verhaltensstörung, nämlich um das sogenannte Münchhausen-Syndrom bzw. um das Münchhausen-by-proxy-Syndrom (auch Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom genannt).3

Das Bedürfnis, krank zu sein

Zugeordnet werden diese Krankheitsbilder der sogenannten artifiziellen Störung: Betroffene täuschen Krankheitssymptome nur vor oder führen diese bewusst herbei,4 sie „riskieren oft sogar ihr Leben, nehmen bleibende Schäden oder Verstümmelungen hin“5, erklärt Annegret Eckhardt-Henn, ärztliche Direktorin am Klinikum Stuttgart. Speziell beim Münchhausen-Syndrom kommt hinzu, dass „die gesamte Lebensführung auf das vorgespielte Kranksein eingestellt ist“6, ergänzt Marc Feldman, Psychologie-Professor an der Universität von Alabama, was sich beispielsweise dadurch kennzeichnet, dass Betroffene ein starkes Bedürfnis nach häufigen, in vielen Fällen nicht notwendigen medizinischen Behandlungen verspüren und deswegen auch laufend Arzttermine vereinbaren.7 Hinter der Störung steckt vor allem der extrem stark ausgeprägte Wunsch danach, krank zu sein, um Aufmerksamkeit und Einzigartigkeit zu erlangen; gleichzeitig ist das Selbstwertgefühl sehr niedrig ausgeprägt, was gemäß Schätzungen 0,2 % bis 1 % der Personen, die ein Krankenhaus aufsuchen, betrifft.8

Ursachenforschung

Wie artifizielle Störungen und insbesondere das Münchhausen-Syndrom überhaupt entstehen, ist dabei nach wie vor Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Ausgegangen wird jedoch davon, dass vor allem traumatische Kindheitserlebnisse wie Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung hinter der Erkrankung stecken. Auch mit anderen psychischen Erkrankungen kann eine artifizielle Störung einhergehen, so beispielsweise mit Essstörungen, dem Borderline-Syndrom, mit einer narzisstischen, dissozialen oder histrionischen Persönlichkeitsstörung sowie mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, Suchterkrankung oder einer Depression.9 Die Symptome des Münchhausen-Syndroms sind dabei für Ärzt*innen nicht immer deutlich erkennbar.

Meister*in der Manipulation

Die Betroffenen bauen sich nämlich ein Lügengebilde, das nur schwer von Außenstehenden entlarvt werden kann: Neben den häufigen Arztbesuchen simulieren sie gekonnt psychische und physische Krankheitssymptome und vor allem Letztere fügen sie sich in vielen Fällen selbst zu (Selbstverletzung und Selbstvergiftung); auch Untersuchungswerte werden gefälscht. Betroffenen geht es grundlegend darum, das medizinische Personal von der Notwendigkeit einer Behandlung zu überzeugen, insbesondere von nicht erforderlichen Eingriffen. Hinweis auf das Münchhausen-Syndrom kann sodann sein, dass Freude über die erfolgreiche Behandlung ausbleibt oder medizinische Eingriffe scheinbar nicht zielführend waren, da beispielsweise Symptome nicht verschwinden oder Wunden durch erneute Selbstverletzung nicht verheilen.10

Die Sonderform Münchhausen-by-proxy-Syndrom

Vor allem Frauen sind von einer Sonderform der Erkrankung betroffen, nämlich vom Münchhausen-by-proxy-Syndrom: Hier findet das selbstverletzende Verhalten nicht an sich selbst statt, sondern einer anderen Person wird Schaden zugefügt, in vielen Fällen den eigenen Babys und Kleinkindern. Auch dabei werden Krankheitssymptome erfunden oder sogar bewusst herbeigeführt mit dem Ziel, eine medizinische Behandlung zu erzwingen und Aufmerksamkeit sowie Anerkennung vom sozialen Umfeld für die vermeintliche Fürsorge zu erhalten.11 Weil dabei Kindesmisshandlung bis hin zur Kindstötung gegeben ist, zieht diese Form der artifiziellen Störung außerdem juristische Konsequenzen nach sich.12 Doch wie kann es überhaupt so weit kommen?

Schwierig zu erkennen

Hans-Peter Kapfhammer von der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Medizinischen Universität in Graz weiß: „[…] [I]m klinischen Alltag wird in der Regel nur eine kleine Anzahl der artifiziellen Störungen diagnostiziert“13. Dies hänge damit zusammen, dass Ärzt*innen nicht unterstellen würden, dass Symptome nicht gegeben wären: „Als Mediziner gehen wir davon aus, dass der Patient das, was er sagt, auch so meint“14, sagt Kampfhammer.15 Verdacht entstehe meistens erst dann, „[w]enn ein Arzt bei einem Patienten mit einem Krankheitsbild konfrontiert ist, das er in dieser Form so noch nie gesehen hat, viele widersprüchliche Angaben zur Entstehung der Beschwerden vorliegen oder Laborbefunde zu dem Verlauf einfach nicht passen“16, erklärt er weiter. Doch in diesem Fall – wenn die Lügen der*des Patient*in entlarvt werden – wechseln Betroffene so schnell wie möglich den*die behandelnde*n Arzt*Ärztin, um erneut die gewollten medizinischen Behandlungen zu bekommen.

Mäßig wirksame Behandlungsansätze

Denn werden Betroffene schließlich mit dem Verdacht konfrontiert, am Münchhausen-(by-proxy-)Syndrom zu leiden, sind sie in vielen Fällen auch nicht bereit, sich damit auseinanderzusetzen, geschweige denn therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aufgrund der mangelnden Einsicht gestaltet sich die Behandlung häufig sehr schwierig, was sodann zu einer Chronifizierung der Erkrankung führt; manchmal kann diese gar nicht geheilt werden.17

Begeben sich Betroffene jedoch in Therapie – notwendig ist jedenfalls eine Psychotherapie –, wird vielfach zur stationären Therapie bzw. zu einer Intervalltherapie (abwechselnde stationäre und ambulante Behandlung) geraten. Zunächst werden die körperlichen Symptome behandelt, die auf das selbstschädigende Verhalten zurückgeführt werden können; erst danach kommen vorwiegend verhaltenstherapeutische Methoden zum Einsatz – jedoch nur mit mäßigem Erfolg.18

Aufgrund der Gefahr für Betroffene und für Angehörige ist es dennoch von besonderer Wichtigkeit und dringend notwendig, intensive psychotherapeutische Maßnahmen zu treffen. Und obwohl diese häufig nicht sehr vielversprechend sind – die erfolgreiche Behandlung scheitert oftmals an der betroffenen Person selbst, die wenig Einsicht hinsichtlich des eigenen Verhaltens zeigt –, so bleiben sie die einzige Möglichkeit, die Krankheit zu bewältigen.

 


1 Vgl. Thomma, Norbert: Rekonstruktion eines Doppellebens. Wie der Tod die Lüge schützt. In: tagesspiegel.de. Veröffentlicht am 16.12.2015.
URL: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/wie-der-tod-die-luge-schutzt-6883999.html [Stand: 05.03.2024].

2 Vgl. APA / dpa: Kind mit verseuchten Spritzen gequält: Mutter vor Gericht. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 21.09.2015.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000022531917/kind-mit-verseuchten-spritzen-gequaelt-mutter-vor-gericht [Stand: 05.03.2024].

3 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung. In: oberbergkliniken.de.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

4 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

5 AP / OC: Grausamer Krieg gegen den eigenen Körper. In: welt.de. Veröffentlicht am 04.01.2008.
URL: https://www.welt.de/wissenschaft/article1517023/Grausamer-Krieg-gegen-den-eigenen-Koerper.html [Stand: 05.03.2024].

6 Borchard-Tuch, Claudia: „Betrügerisches Krankspielen steht nicht auf dem Lehrplan“. In: spektrum.de. Veröffentlicht am 11.05.2006.
URL: https://www.spektrum.de/news/betruegerisches-krankspielen-steht-nicht-auf-dem-lehrplan/841312 [Stand: 05.03.2024].

7 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

8 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Artifizielle Störungen: Rätselhaft und gefährlich. In: aerzteblatt.de. Veröffentlicht im September 2010.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/78316/Artifizielle-Stoerungen-Raetselhaft-und-gefaehrlich [Stand: 05.03.2024] und
vgl. Ewert, Katrin / Schwenkenbecher, Jan: Münchhausen-Syndrom. In: focus-gesundheit.de. Aktualisiert am 26.01.2024.
URL: https://focus-gesundheit.de/magazin/krankheiten/psychische-erkrankungen/das-muenchhausen-syndrom-richtig-erkennen-und-behandeln [Stand: 05.03.2024].

9 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

10 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

11 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

12 Vgl. Sonnenmoser, Marion: Artifizielle Störungen: Rätselhaft und gefährlich. In: aerzteblatt.de. Veröffentlicht im September 2010.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/78316/Artifizielle-Stoerungen-Raetselhaft-und-gefaehrlich [Stand: 05.03.2024]

13 Walter, Regina: Von Krankenhaus zu Krankenhaus. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 29.04.2013.
URL: https://www.derstandard.at/story/1363707920579/von-krankenhaus-zu-krankenhaus [Stand: 05.03.2024].

14 Walter, Regina: Von Krankenhaus zu Krankenhaus. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 29.04.2013.
URL: https://www.derstandard.at/story/1363707920579/von-krankenhaus-zu-krankenhaus [Stand: 05.03.2024].

15 Walter, Regina: Von Krankenhaus zu Krankenhaus.
URL: https://www.derstandard.at/story/1363707920579/von-krankenhaus-zu-krankenhaus [Stand: 05.03.2024].

16 Walter, Regina: Von Krankenhaus zu Krankenhaus.
URL: https://www.derstandard.at/story/1363707920579/von-krankenhaus-zu-krankenhaus [Stand: 05.03.2024].

17 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

18 Vgl. Oberberg: Münchhausen-Syndrom: Definition, Hintergründe, Auswirkungen und Behandlung.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/artikel/muenchhausen-syndrom-definition-hintergruende-auswirkungen-und-behandlung [Stand: 05.03.2024].

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Veröffentlicht am: 02.05.2024