Krank? Niemals!

 

Krank zu sein bedeutet, das Bett zu hüten, genesungsunterstützende Maßnahmen zu treffen und nicht arbeiten zu gehen. In letzterem Fall handeln viele aber gegenteilig – mit Gefahren für Arbeitnehmer*innen und -geber*innen.

Laufende Nase, Kopfschmerzen, kratzender Hals – lange galt es während der Corona-Zeit als verpönt, überhaupt daran zu denken, ungetestet und mit Erkältungssymptomen arbeiten zu gehen. Immerhin stand die eigene Genesung im Vordergrund und zusätzlich hätte man im schlimmsten Fall die Kolleg*innen angesteckt. Zwar erleben wir in diesem Winter wieder eine enorme Krankheitswelle mit entsprechend vielen Krankenständen, doch der Geschäftsführer des Institutes für empirische Sozialforschung Reinhard Raml ist sich sicher: „Je weniger gravierend Corona-Infektionen werden, desto eher werden die Leute wieder mit Erkältung ins Büro kommen“1. Und dieses Phänomen – krank arbeiten zu gehen – ist weit verbreitet und unter dem Begriff des Präsentismus bekannt. Aber womit hängt es zusammen, dass man der Arbeit gegenüber der Gesundheit Vorrang einräumt?

Immer 100 % geben

Zwar sind die Motive hinter dem Präsentismus je nach Person unterschiedlich, jedoch ist ihnen allen der Leistungsdruck unserer Gesellschaft übergeordnet: „Krank sein ist in unserer Gesellschaft nicht anerkannt“2, wie die deutsche Arbeitspsychologin Christina Griesel erklärt. Und diese Leistungsorientierung führe laut der deutschen Psychologin Isabelle Helmreich dazu, „keine Schwäche zeigen“3 zu dürfen. Präsentismus als „ein unsichtbares Phänomen“4, wie Heiko Breitsohl, Professor für Organisation und Personalmanagement an der Universität Klagenfurt, anmerkt, könne im Gegensatz zum Absentismus – die Abwesenheit vom Arbeitsplatz –5 nicht gemessen werden.6 Somit wird durch die Anwesenheit der Mitarbeiter*innen automatisch auch Gesundheit suggeriert. Gemäß einer Umfrage von der Arbeiterkammer Wien aus dem Jahr 2022 zeigt sich aber, dass 90 % der Arbeitnehmer*innen krank zur Arbeit gehen.7 Was jedoch nur wenige glauben wollen – „insgesamt [sind] die volkswirtschaftlichen Kosten für Präsentismus wesentlich höher […] als für Absentismus“8, erklärt Breitsohl. Und nicht zuletzt – der Präsentismus „zermürbt auf längere Frist“9, appelliert der österreichische Allgemeinmediziner Erich Pospischil.

Gesundheitlicher Schaden

Entscheiden sich Arbeitnehmer*innen dafür, krank zur Arbeit zu gehen, schadet man damit im schlimmsten Fall der eigenen Gesundheit langfristig: Einerseits sorge Stress in der Arbeit dafür, dass „die Immunreaktion auf Viren unterdrückt“10 werde, weil dieser „eine immunsuppressive Wirkung hat“11, wie der deutsche Arbeitspsychologe Tim Hagemann erklärt. „Das Problem besteht darin, dass sich die Viren dann weiter munter vermehren können und die Immunantwort dann, wenn der Stress nachlässt, viel härter wird“12, so seine Ausführungen. Dadurch können schon einfach Erkältungen viel länger andauern als gewöhnlich. Und außerdem bestehe die Gefahr, die Erkrankung zu ‚verschleppen‘, wie Hagemann ergänzt: „Schon eine einfache Erkältung kann lebensgefährdend sein – wenn man sich nicht richtig schont“13.14 Die Arbeitspsychologin Conny Antoni warnt: „Wer Raubbau mit seiner Gesundheit betreibt, der riskiert eine spätere Arbeitsunfähigkeit“15. Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Präsentismus gesundheitliche Folgen wie eine Herzmuskelentzündung, ein erhöhtes Herzinfarktrisiko oder eine Burnout-Erkrankung haben kann. Arbeitnehmer*innen, die trotz Krankheit mehr als sechs Mal im Jahr arbeiten, haben ein um 53 % höheres Risiko einer späteren Arbeitsunfähigkeit. Arbeitet man mehr als 14 Tage im Jahr trotz Krankheit, erhöht sich das Risiko einer späteren Arbeitsunfähigkeit sogar auf 74 %.16

Folgen für Arbeitgeber*innen

Und werden Erkrankungen schwerwiegender oder sogar chronisch, ergibt sich für das Unternehmen an sich ein großer Schaden durch den längerfristigen Ausfall der Mitarbeiter*innen.17 Auch die Arbeit im Generellen leidet unter dem Präsentismus-Phänomen: „Die kranken Menschen können nicht so viel leisten und machen Fehler“18, so Breitsohl, was mit Kosten zulasten des Unternehmens verbunden sein könnte. Außerdem – „[w]enn Menschen infektiös sind, können sie Kolleginnen und Kunden anstecken“19, führt Breitsohl weiter aus. Dies hätte sodann einen größeren Personalausfall des Unternehmens zur Folge. Und Studien belegen, dass die Kosten für Unternehmen durch Präsentismus markant höher ausfallen als durch Fehlzeiten; sie sind zum Teil doppelt so hoch.20

Verschiedene Motive

Warum also gehen Arbeiternehmer*innen krank arbeiten? Die Gründe dafür sind individuell: In vielen Fällen erklären Befragte dies damit, dass sie Kolleg*innen nicht mit Mehrarbeit belasten möchten – Präsentismus kann also auf das Pflichtgefühl der Mitarbeiter*innen zurückgeführt werden.21 Außerdem geben Befragte, die zufrieden mit ihrem Job und entsprechend engagiert sind, an, möglichst viel Zeit und Energie in die Arbeit investieren zu wollen, auch wenn sie krank sind.22

Präsentismus kann jedoch auch auf Stress der Arbeitnehmer*innen zurückgeführt werden, auf Termine und Deadlines, die eingehalten werden müssen, wie Befragte zudem angeben, und sogar auf die Angst, den Job bei einem Krankenstand zu verlieren.23 Deswegen stehen hier die Unternehmen in der Kritik: Mitarbeiter*innen sehen sich verpflichtet, krank arbeiten zu gehen, weil sie keine Vertretung für die Zeit des Krankenstandes haben und wichtige Aufgaben nicht erledigt werden können.24 „Führungskräfte müssen für eine angemessene Personalbemessung sorgen, die auch Vertretungen im Krankheitsfall ermöglicht“25, wie Antoni deswegen fordert.

Vorbeugende Maßnahmen

Dem Präsentismus kann gemäß mehreren Untersuchungen aber vorgebeugt werden: Bewährt hat sich die betriebliche Gesundheitsförderung in Unternehmen, denn durch die Vermittlung und Durchführung von gesundheitsförderlichen Maßnahmen die Physis und Psyche betreffend sind Mitarbeiter*innen nicht nur gesünder, sondern achten auch mehr auf das eigene körperliche und seelische Wohlbefinden.26 Ebenso müssen einzelne unternehmensinterne Systeme, die Präsentismus fördern, beseitigt werden, beispielspeise Anreizsysteme für Anwesenheit sowie zu knappe Personalbemessung.27 Und nicht zuletzt stehen Führungskräfte selbst in der Verantwortung, den Mitarbeiter*innen einen angemessenen Umgang mit einer Erkrankung vorzuleben: „Schließlich prägen vor allem die Führungskräfte die Kultur im Unternehmen und vermitteln durch ihr eigenes Verhalten eine Erwartung darüber, wie sich ihre Mitarbeiter verhalten sollen“28, erklärt Antoni. Indem Vorgesetzte im Krankheitsfall demnach zu Hause bleiben und darauf achten, sich auszukurieren, wird den Mitarbeiter*innen suggeriert, dass Abwesenheit bei Krankheit in Ordnung ist. Helmreich resümiert demgemäß, dass „[s]owohl Arbeitgeber:innen als auch ich selbst […] mehr davon [haben], wenn ich eine Erkrankung ausreichend auskuriere und dann wieder erholt mit vollem Einsatz zurückkehren kann“29.

Gemäß den Ausführungen besteht also für Arbeitnehmer*innen und ebenso Unternehmen eine große Gefahr, wenn notwendige Krankenstandstage nicht in Anspruch genommen werden und man den Arbeitsplatz krank aufsucht. Um Präsentismus vorzubeugen und in weiterer Folge weder der eigenen Gesundheit noch dem Betrieb nachhaltig Schaden zuzufügen, sollten krankheitsbedingte Fehlzeiten jedenfalls akzeptiert werden, sowohl vonseiten der Arbeitgeber*innen als auch der Arbeitnehmer*innen.

 


1 Corazza, Jennifer: Krank ins Büro? Warum wir das wieder machen werden. In: kurier.at. Veröffentlicht am 22.06.2023.
URL: https://kurier.at/wirtschaft/karriere/krank-ins-buero-warum-wir-das-wieder-machen-werden/402495919 [Stand: 10.01.2024].

2 Jürgensmeier, Nina: Warum gehen wir krank zur Arbeit? In: rnd.de. Veröffentlicht am 17.10.2022.
URL: https://www.rnd.de/beruf-und-bildung/praesentismus-warum-so-viele-beschaeftigte-krank-zur-arbeit-gehen-R4OE3BTQEJDDZAECQMBWPGHIPA.html [Stand: 10.01.2024].

3 Lohmann, Andrea: Warum krank zur Arbeit gehen nicht die Lösung ist. In: swr.de. Veröffentlicht am 27.09.2023.
URL: https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/warum-gehen-wir-krank-zur-arbeit-expertin-nennt-gruende-100.html [Stand: 10.01.2024].

4 Maier, Barbara: Warum gehen Menschen krank zur Arbeit? In: aau.at. Veröffentlicht am 14.03.2018.
URL: https://www.aau.at/blog/warum-gehen-menschen-krank-zur-arbeit/ [Stand: 10.01.2024].

5 Vgl. Dorsch – Lexikon der Psychologie: Arbeitsabwesenheit. In: dorsch.horgefe.com.
URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/arbeitsabwesenheit [Stand: 10.01.2024].

6 Vgl. Maier, Barbara: Warum gehen Menschen krank zur Arbeit?
URL: https://www.aau.at/blog/warum-gehen-menschen-krank-zur-arbeit/ [Stand: 10.01.2024].

7 Vgl. AK – Portal der Arbeiterkammer: Krank in die Arbeit. In: arbeiterkammer.at.
URL: https://www.arbeiterkammer.at/service/presse/Krank_in_die_Arbeit.html [Stand: 10.01.2024].

8 Maier, Barbara: Warum gehen Menschen krank zur Arbeit?
URL: https://www.aau.at/blog/warum-gehen-menschen-krank-zur-arbeit/ [Stand: 10.01.2024].

9 Breit, Lisa: Warum Menschen krank in die Arbeit gehen. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 05.01.2016.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000027737593/warum-menschen-krank-in-die-arbeit-gehen [Stand: 10.01.2024].

10 Gutensohn, David: „Mitarbeiter prahlen mit dem Aspirin-Pulver in der Schublade“. In: zeit.de. Veröffentlicht am 05.12.2019.
URL: https://www.zeit.de/arbeit/2019-12/praesentismus-arbeitnehmer-krankheit-gefahren-arbeitspsychologe/komplettansicht [Stand: 10.01.2024].

11 Gutensohn, David: „Mitarbeiter prahlen mit dem Aspirin-Pulver in der Schublade“.
URL: https://www.zeit.de/arbeit/2019-12/praesentismus-arbeitnehmer-krankheit-gefahren-arbeitspsychologe/komplettansicht [Stand: 10.01.2024].

12 Gutensohn, David: „Mitarbeiter prahlen mit dem Aspirin-Pulver in der Schublade“.
URL: https://www.zeit.de/arbeit/2019-12/praesentismus-arbeitnehmer-krankheit-gefahren-arbeitspsychologe/komplettansicht [Stand: 10.01.2024].

13 Gutensohn, David: „Mitarbeiter prahlen mit dem Aspirin-Pulver in der Schublade“.
URL: https://www.zeit.de/arbeit/2019-12/praesentismus-arbeitnehmer-krankheit-gefahren-arbeitspsychologe/komplettansicht [Stand: 10.01.2024].

14 Vgl. Gutensohn, David: „Mitarbeiter prahlen mit dem Aspirin-Pulver in der Schublade“.
URL: https://www.zeit.de/arbeit/2019-12/praesentismus-arbeitnehmer-krankheit-gefahren-arbeitspsychologe/komplettansicht [Stand: 10.01.2024].

15 Vollmer, Alexandra: Wer krank ins Büro geht, leidet an „Präsentismus“. In: welt.de. Veröffentlicht am 14.05.2018.
URL: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article176333139/Wer-krank-ins-Buero-geht-ruiniert-seinen-Arbeitgeber.html [Stand: 10.01.2024].

16 Vgl. Vollmer, Alexandra: Wer krank ins Büro geht, leidet an „Präsentismus“.
URL: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article176333139/Wer-krank-ins-Buero-geht-ruiniert-seinen-Arbeitgeber.html [Stand: 10.01.2024] und
vgl. Gutensohn, David: „Mitarbeiter prahlen mit dem Aspirin-Pulver in der Schublade“.
URL: https://www.zeit.de/arbeit/2019-12/praesentismus-arbeitnehmer-krankheit-gefahren-arbeitspsychologe/komplettansicht [Stand: 10.01.2024].

17 Vgl. Maier, Barbara: Warum gehen Menschen krank zur Arbeit?
URL: https://www.aau.at/blog/warum-gehen-menschen-krank-zur-arbeit/ [Stand: 10.01.2024].

18 Maier, Barbara: Warum gehen Menschen krank zur Arbeit?
URL: https://www.aau.at/blog/warum-gehen-menschen-krank-zur-arbeit/ [Stand: 10.01.2024].

19 Vgl. Maier, Barbara: Warum gehen Menschen krank zur Arbeit?
URL: https://www.aau.at/blog/warum-gehen-menschen-krank-zur-arbeit/ [Stand: 10.01.2024].

20 Vgl. Vollmer, Alexandra: Wer krank ins Büro geht, leidet an „Präsentismus“.
URL: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article176333139/Wer-krank-ins-Buero-geht-ruiniert-seinen-Arbeitgeber.html [Stand: 10.01.2024].

21 Vgl. Focus online: Das ist doch krank. In: focus.de. Veröffentlich am 09.09.2015.
URL: https://www.focus.de/finanzen/karriere/berufsleben/das-ist-doch-krank-praesentismus_id_1783283.html [Stand: 10.01.2024] und
vgl. Schulz, Anne: Präsentismus: Definition des weitverbreiteten Phänomens. In: praxistipps.focus.de. Veröffentlicht am 05.09.2022.
URL: https://praxistipps.focus.de/praesentismus-definition-des-weitverbreiteten-phaenomens_150149 [Stand: 10.01.2024].

22 Vgl. Breit, Lisa: Warum Menschen krank in die Arbeit gehen.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000027737593/warum-menschen-krank-in-die-arbeit-gehen [Stand: 10.01.2024].

23 Vgl. Focus online: Das ist doch krank. In: focus.de. Veröffentlich am 09.09.2015.
URL: https://www.focus.de/finanzen/karriere/berufsleben/das-ist-doch-krank-praesentismus_id_1783283.html [Stand: 10.01.2024] und
vgl. Dorsch – Lexikon der Psychologie: Arbeitsabwesenheit.
URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/arbeitsabwesenheit [Stand: 10.01.2024].

24 Vgl. Schulz, Anne: Präsentismus: Definition des weitverbreiteten Phänomens.
URL: https://praxistipps.focus.de/praesentismus-definition-des-weitverbreiteten-phaenomens_150149 [Stand: 10.01.2024].

25 Vollmer, Alexandra: Wer krank ins Büro geht, leidet an „Präsentismus“.
URL: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article176333139/Wer-krank-ins-Buero-geht-ruiniert-seinen-Arbeitgeber.html [Stand: 10.01.2024].

26 Vgl. Dorsch – Lexikon der Psychologie: Arbeitsabwesenheit.
URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/arbeitsabwesenheit [Stand: 10.01.2024] und
vgl. AOK: Präsentismus und seine Folgen. In: aok.de. Aktualisiert am 31.07.2023. URL: https://www.aok.de/fk/betriebliche-gesundheit/grundlagen/fehlzeiten/praesentismus-und-seine-folgen/ [Stand: 10.01.2024].

27 Vgl. APA: Krank im Büro: Präsentismus als „Zeitbombe“. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 30.10.2013.
URL: https://www.derstandard.at/story/1381370379447/krank-am-arbeitsplatz-praesentismus-als-zeitbombe [Stand: 10.01.2024].

28 Vollmer, Alexandra: Wer krank ins Büro geht, leidet an „Präsentismus“.
URL: https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article176333139/Wer-krank-ins-Buero-geht-ruiniert-seinen-Arbeitgeber.html [Stand: 10.01.2024].

29 Lohmann, Andrea: Warum krank zur Arbeit gehen nicht die Lösung ist.
URL: https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/warum-gehen-wir-krank-zur-arbeit-expertin-nennt-gruende-100.html [Stand: 10.01.2024].

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Veröffentlicht am: 07.02.2024