Die Psyche und Physis im ständigen Kampf der Gleichbehandlung

 

Wenn der Kopf dröhnt, der Rücken schmerzt oder wir an einer Erkältung leiden, entspricht es der Normalität, eine*n Ärzt*in zu konsultieren. Warum verhält es sich bei seelischen Krisen nicht auch so?

Schon vor Beginn der globalen Corona-Krise wurde des Öfteren die Wichtigkeit einer adäquaten Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen diskutiert, jedoch mit mäßigem Erfolg. Durch die Pandemie haben sich die Probleme dahin gehend noch einmal um ein Vielfaches verschärft, was eine aktuelle Studie zum Thema „Psychische Gesundheit in Österreich“1 deutlich zum Ausdruck bringt: Gemäß dieser Umfrage waren 39 % der Österreicher*innen schon einmal von einer psychischen Erkrankung betroffen oder sind es aktuell. Weitere Zahlen belegen aber, dass trotz dieser weiten Verbreitung psychische Krankheiten immer noch ein Tabuthema darstellen, denn nur 63 % würden auch der Familie und Freund*innen von der Krankheit erzählen und sogar nur 21 % den Arbeitskolleg*innen.2

Diese Studie zeigt somit deutlich, dass psychischen Erkrankungen – obwohl sie weitverbreitet sind – immer noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuteilwird, um Betroffenen zureichend zu helfen. Dies wird unter anderem daran ersichtlich, dass in Österreich eine nur begrenzte Anzahl an Kassenplätzen für eine psychotherapeutische Behandlung zur Verfügung steht; und ohne den entsprechenden Kostenzuschuss ist die Psychotherapie für viele Betroffene nicht leistbar.3

Warum psychischen Erkrankungen außerdem zu wenig Beachtung geschenkt wird, hängt ebenso damit zusammen, dass die Allgemeinbevölkerung über zu wenige Informationen zu psychischen Erkrankungen verfügt, wie auch die an Depressionen leidende Dorothea erzählt: „Viele, hatte ich das Gefühl, wissen gar nicht genau, was eine Depression ist. Dabei ist es eine so verbreitete psychische Erkrankung“4, so ihre Erfahrung. Und deswegen „müssen psychische Erkrankungen stärker in den Fokus gerückt und mehr Wissen über psychische Erkrankungen verbreitet werden“5, wie die Präsidentin des Berufsverbandes Österreichischer PsychologInnen, Beate Wimmer-Puchinger, fordert.

Psychische Erkrankung = Körperliche/geistige Behinderung?

Dass psychische Störungen in der Öffentlichkeit immer noch nicht als ernsthafte Erkrankungen wahrgenommen werden, könnte unter anderem daran liegen, dass mit der Kundmachung, an einer psychischen Krankheit zu leiden, gleichzeitig Kompetenzen, den Alltag zu meistern, abgesprochen werden, wie die an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leidende Sabine aus eigener Erfahrung schildert: „Wenn man sich als psychisch krank outet, wird man infrage gestellt und nicht mehr ernst genommen. […] Mir wurde lange unterstellt, ‚Vorteile erschleichen zu wollen‘, ich wäre zu fordernd und solle mich nicht so anstellen“6.

Eine Erklärung dafür, warum psychische Erkrankungen unter anderem mit eingeschränkter (geistiger) Leistungsfähigkeit assoziiert oder gar mit einer körperlichen Beeinträchtigung in Verbindung gebracht werden, könnte auch mit der aktuellen Gesetzeslage und ihrer historischen Entwicklung in Zusammenhang stehen. So lautet beispielsweise die bis heute gültige Definition gemäß der UN-Konvention, dass zur Gruppe der Menschen mit Behinderung all jene gehören, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“7. Demnach werden körperliche, geistige sowie seelische Beeinträchtigungen gleichwertig und ohne Unterscheidung zusammengefasst; und so gestaltet sich auch die österreichische Gesetzeslage: „Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren“8, so der Wortlaut. Dass Betroffene gemäß dem BGStG als behinderte Personen betrachtet werden und im Generellen zwischen psychischen Erkrankungen sowie körperlichen bzw. geistigen Behinderungen demgemäß kein Unterschied gemacht wird, könnte damit zusammenhängen, dass man psychisch Kranken entsprechende Rechte zukommen lassen wollte, um ihnen auch den notwendigen Schutz zu gewähren.

Ein Ungleichgewicht zwischen psychischen und physischen Krankheiten.

In vielen Fällen müssen psychische Erkrankungen jedoch nicht – wie die Gesetzeslage besagt – von Dauer sein, denn spezifische Symptome einer psychischen Erkrankung können dabei genauso wie somatische Beschwerden erfolgreich gelindert werden bzw. viele Störungen sind auch zur Gänze heilbar. Trotzdem hält sich jenes Vorurteil hartnäckig, dass psychische Krankheiten ein Leben lang bestehen und sie damit auch Betroffene unaufhörlich einschränken, unter anderem in der Ausübung beruflicher Tätigkeiten. Der Schweizer Psychiater Thomas Ihde-Scholl erklärt dazu, dass beispielsweise etwa 90 % aller Menschen, die an Depressionen leiden, auch wieder gesund werden: „Das ist eine ähnliche Rate wie bei vielen organischen Erkrankungen. Doch niemand sagt: einmal Lungenentzündung, immer Lungenentzündung. Den Leuten ist klar, dass man Antibiotika nehmen und ein paar Tage im Spital liegen muss, aber dass man irgendwann wieder gesund ist und arbeiten kann. Bei psychischen Erkrankungen ist es oft ganz ähnlich, blo[ß] nimmt das die Gesellschaft zu wenig wahr“9, so seine Erklärung für die anhaltende Voreingenommenheit.

Dies kann wiederum darauf zurückgeführt werden, dass psychische Erkrankungen für Außenstehende nicht sicht- und messbar sind, während beispielsweise ein Beinbruch wegen des Gips-Verbandes keinesfalls angezweifelt wird.10 Und so wird vielen Betroffenen wie Dorothea auch vorgeworfen, sich persönliche Vorteile (vor allem in der Arbeitswelt) verschaffen zu wollen und zu diesem Zwecke psychische Probleme vorzutäuschen oder sie zumindest zu übertreiben. Doch Ihde-Scholl erläutert dazu, dass nur in äußerst seltenen Fällen seelische Krisen simuliert werden, weil man nicht mit dem anhaltenden Stigma ‚psychisch krank‘11 belegt werden möchte.12

Die unsichtbare Krankheit wird sichtbar durch den vermeintlich nicht bewältigbaren (Arbeits-)Alltag.

Die falsche Annahme, Nutzen aus der Erkrankung speziell im Arbeitsalltag ziehen zu wollen, besteht allerdings bis heute, was damit zusammenhängen könnte, dass Betroffene tatsächlich mit Erschwernissen, den (beruflichen) Alltag zu meistern, zu kämpfen haben, wenn ihnen keine Unterstützung zuteilwird. Und dass viele Betroffene unter einer anhaltenden Arbeitslosigkeit leiden, kann oftmals auf die hohen Arbeitsanforderungen und die gleichzeitig nicht vorhandenen bzw. wenig möglichen Hilfestellung vonseiten der Unternehmen zurückgeführt werden. Auch Sabine hat diesbezüglich ähnliche Erfahrungen gemacht: „Ich habe zu spüren bekommen, dass Kolleg*innen und Vorgesetzte damit überfordert sind. Sie wollen sich nicht mit psychischen Erkrankungen oder generell mit Konflikten oder Bedürftigkeit auseinandersetzen. Das wird als Zumutung empfunden“13. Die Fachärztin für Psychiatrie, Karin Gutiérrez-Lobos, verweist diesbezüglich auch auf eine Feststellung der OECD, dass österreichische Firmen im internationalen Vergleich ungewöhnlich wenige Menschen mit psychischen Erkrankungen beschäftigen,14 was die Aussagen und Erfahrungen von Sabine unterstützt und untermauert.

Dabei wäre gerade die Erwerbstätigkeit von Betroffenen vonnöten, um einer sozialen Exklusion vorzubeugen, aber ohne entsprechende Hilfestellungen wird es ihnen auch erschwert, den beruflichen Anforderungen standzuhalten. Gemäß den Ausführungen ist es somit auch nicht verwunderlich, dass sich – wie in der eingangs erwähnten Studie erfragt – nur 21 % der Betroffenen ihren Arbeitgeber*innen/Kolleg*innen bezüglich einer Erkrankung aus Angst vor einem inadäquaten Umgang bis hin zum Jobverlust auch anvertrauen würden.

Nicht nur in der Arbeitswelt ist deswegen ein schärferes Bewusstsein für psychische Erkrankung notwendig; auch und vor allem im Hinblick auf ihre Behandlung muss dringend Aufklärungsarbeit geleistet werden. Wie erläutert sind nämlich die Erfolgschancen für eine vollständige Genesung bzw. für eine Linderung der Symptome zur (fast) uneingeschränkten Alltagsbewältigung ähnlich hoch wie bei somatischen Beschwerden. Wegen der anhaltenden Stigmatisierung, dass psychische Erkrankungen kaum oder gar nicht heilbar und psychisch Kranke im Generellen von einer beruflichen und infolgedessen sozialen Exklusion betroffen sind, stellt es für viele jedoch schon eine große Überwindung dar, sich überhaupt Hilfe zu holen. Dies kann neben der häufig nicht leistbaren Therapie auch darauf zurückgeführt werden, dass Behandlungsinstitutionen wie psychiatrische Kliniken und im Detail psychiatrisch-psychotherapeutische Therapiemöglichkeiten einer fortwährenden Abwertung unterliegen.15

Die Entstigmatisierung kann nur mithilfe von Informationsweitergabe vonstattengehen.

Diese und weitere zahlreiche Vorurteile zu psychischen Erkrankungen sowie entsprechende Diffamierungen können nur mit einer fortwährenden Wissensvermittlung sowie Aufklärung zu psychischen Erkrankungen, ihren diversen Störungsformen sowie den Behandlungsmöglichkeiten entkräftet werden. Somit muss es das Ziel sein, die Bevölkerung immerzu mit hilfreichen Informationen zu versorgen sowie bestehende Falschannahmen zu widerlegen, um eine Entstigmatisierung zu beschleunigen. Denn „es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit“16, und die Behandlung von psychischen Erkrankungen muss demnach genauso alltäglich werden wie die Therapie von Kopf- und Rückenschmerzen oder Erkältungserscheinungen.

Informationen zu psychischen Erkrankungen im Allgemeinen und im Detail finden Sie beispielsweise unter:

pro mente OÖ
Erste Hilfe für die Seele
W: https://www.pmooe.at/erste-hilfe/erste-hilfe-fuer-die-seele/

Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs
Psyche & Seele: Basis-Info
W: https://www.gesundheit.gv.at/leben/psyche-seele/gesundheit/inhalt
und https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/inhalt

 


1 Vgl. Berufsverband Österreichischer PsychologInnen: Psychische Gesundheit in Österreich. Studie. Veröffentlicht im Juni 2020. Wien.

2 Vgl. Berufsverband Österreichischer PsychologInnen: Psychische Gesundheit in Österreich. Studie. Veröffentlicht im Juni 2020. Wien.

3 Vgl. Tempfer, Petra: Psychische Gesundheit nicht immer leistbar. In: wienerzeitung.at. Veröffentlicht am 06.09.2020.
URL: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2073685-Psychische-Gesundheit-nicht-immer-leistbar.html [Stand: 21.09.2021].

4 Dahmer, Laura: Was sich Menschen mit psychischer Erkrankung am Arbeitsplatz wünschen. In: ze.tt. Veröffentlicht am 17.07.2020.
URL: https://ze.tt/was-sich-menschen-mit-psychischer-erkrankung-am-arbeitsplatz-wuenschen-depression-burnout/ [Stand: 13.09.2021].

5 APA-OTS: Psychische Gesundheit in Österreich: Aktuelle Studie zeigt großen Handlungsbedarf. In: ots.at. Veröffentlicht am 01.07.2020.
URL: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20200701_OTS0106/psychische-gesundheit-in-oesterreich-aktuelle-studie-zeigt-grossen-handlungsbedarf-bild [Stand: 13.09.2021].

6 Dahmer, Laura: Was sich Menschen mit psychischer Erkrankung am Arbeitsplatz wünschen.
URL: https://ze.tt/was-sich-menschen-mit-psychischer-erkrankung-am-arbeitsplatz-wuenschen-depression-burnout/ [Stand: 13.09.2021].

7 UN-Behindertenrechtskonvention: Definition von Behinderung. In: behindertenrechtskonvention.info.
URL: https://www.behindertenrechtskonvention.info/definition-von-behinderung-3121/ [Stand: 13.09.2021].

8 RIS: Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz – BGStG), Fassung vom 13.09.2021.
URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004228 [Stand: 13.09.2021].

9 Müller, Martin: Psychische Krankheiten sind keine Einbildung. In: beobachter.ch. Veröffentlicht am 21.04.2021.
URL: https://www.beobachter.ch/gesundheit/psychologie/vorurteile-psychische-krankheiten-sind-keine-einbildung [Stand: 13.09.2021].

10 Vgl. Guggenberger, Teresa: Worüber niemand spricht. Wie sich psychische Erkrankungen enttabuisieren lassen. Veröffentlicht am 31.07.2020.
URL: https://www.kleinezeitung.at/lebensart/gesundheit/6015219/Worueber-niemand-spricht_Wie-sich-psychische-Erkrankungen [Stand: 13.09.2021].

11 Warum konkret psychische Erkrankungen auch aktuell einer Stigmatisierung unterliegen, lesen Sie in unserem Blogbeitrag
„Voller Vorurteile – Das Stigma ‚psychische Krankheit‘“ »» vom 10.02.2021.

12 Vgl. Müller, Martin: Psychische Krankheiten sind keine Einbildung.
URL: https://www.beobachter.ch/gesundheit/psychologie/vorurteile-psychische-krankheiten-sind-keine-einbildung [Stand: 13.09.2021].

13 Dahmer, Laura: Was sich Menschen mit psychischer Erkrankung am Arbeitsplatz wünschen.
URL: https://ze.tt/was-sich-menschen-mit-psychischer-erkrankung-am-arbeitsplatz-wuenschen-depression-burnout/ [Stand: 13.09.2021].

14 Vgl. Gutiérrez-Lobos, Karin: Der Teufelskreis von psychischen Erkrankungen und Arbeitslosigkeit. In: derstandard.at. veröffentlicht am 09.06.2021.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000126722958/der-teufelskreis-von-psychischen-erkrankungen-und-arbeitslosigkeit [Stand: 13.09.2021].

15 Vgl. Gaebel, Wolfgang: Psychisch Kranke: Stigma erschwert Behandlung und Integration. In: aerzteblatt.de. Veröffentlicht im Dezember 2004.
URL: https://www.aerzteblatt.de/archiv/44732/Psychisch-Kranke-Stigma-erschwert-Behandlung-und-Integration [Stand: 13.09.2021].

16 pro mente OÖ: Erste Hilfe für die Seele. In: pmooe.at.
URL: https://www.pmooe.at/erste-hilfe/erste-hilfe-fuer-die-seele/ [Stand: 13.09.2021].

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Veröffentlicht am: 13.10.2021